Indien und Europa. Ein musiksoziologischer Kulturvergleich
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Mit der Musik als Medium des Kulturvergleichs will das Forschungsprojekt Indien und Europa. Ein musiksoziologischer Kulturvergleich einen Beitrag zum interkulturellen Verstehen leisten. Ausgangspunkt der wissenssoziologisch und hermeneutisch ansetzenden Forschung ist die Frage, ob bzw. inwiefern die soziale Praxis und die Sturkurmerkmale der klassischen europäischen und der klassischen indischen Musik als Ausdrucksformen unterschiedlicher Kulturideen interpretiert werden können. Max Webers Musiksoziologie folgend stellte sich heraus, dass sich dessen Rationalisierungsthese auf die europäische, nicht aber auf die indische Musikgeschichte anwenden lässt. Die für den Kulturvergleich konzipierten Gegensatzpaare Mehrstimmigkeit vs. Einstimmigkeit, Komposition vs. Improvisation, Schriftlichkeit vs. Mündlichkeit erwiesen sich als eurozentrisch. Die erste Phase der Forschung führte nicht zum Verstehen des Fremden, sondern zum Verstehen unhinterfragter Vorannahmen. Die methodisch kontrolliert herbeigeführte Aufdeckung der in Selbstverständlichkeit verschlossenen Vormeinungen ermöglichte eine Revision des Forschungsdesigns. Die Not des Sich-Verfangens im Eigenen wurde in einer ,enharmonischen Interpretation' zur Tugend des produktiven Scheiterns umfunktioniert. Das methodisch kontrollierte Nicht- bzw. Missverstehen erwies sich im weiteren Forschungsprozess als Schlüssel zum Verständnis der fremden Musikkultur. In der Feldforschung eröffneten sich durch das Umschalten von Beobachten und Interviewen auf Teilnahme, Rollenübernahme und Kooperation Verstehensmöglichkeiten, die zu Erkenntnis erweiternden interkulturellen Dialogen führten. Zu den Produkten dieses wechselseitigen Verstehen-Wollens gehören ein interkulturelles Lehr- und Lernprojekt in der Folkwang Hochschule Essen mit indischen und europäischen Musiklehrern und Musikstudierenden (einschließlich eines Abschlusskonzertes in der Philharmonie Essen im September 2005) und - durch die Verwendung der Videokamera als Erkenntnis- und Darstellungsmittel der Soziologie - drei Dokumentarfilme: Be A Medium. Teaching and Learning Indian Classical Music, Indische Musik — Europäische Musik. Ein interkulturelles Lehr- und Lernprojekt, Raga Jog. Madhup Mudgal in der Düsseldorfer Johanneskirche, Als tertium comparationis kristallisierte sich im Verlauf des Forschungsprozesses das Lehren und Lernen von klassischer Musik heraus. Den empirischen Kern der Analyse bildet das indische Pendant zum europäischen Lehrer-Schüler-Verhältnis: die Beziehung zwischen dem Guru und seinem Shishya. Guru-Shishya Parampara ist eine genuin indische Beziehungsform, in der musikalisches Wissen hierarchisch, mimetisch und größtenteils mündlich vom Lehrer an den Schüler weitergegeben wird. An der Art und Weise, wie in Indien und Europa das gesellschaftliche Problem der Musikerziehung durch unterschiedliche Formen der Sozialbeziehung gelöst wird, lassen sich grundlegende kulturelle Differenzen idealtypisch herausarbeiten: Auf europäischer Seite die Erziehung zur sozialen Independenz, die Bildung des Ich, der subjektive Sinn musikalischen Handelns und die Wertschätzung der Komposition (in Musik. Wissenschaft und Alltag); und auf indischer Seite die Erziehung zur sozialen Interdependenz, die Befreiung vom Ich, der objektive Sinn musikalischen Handelns und die Wertschätzung der Improvisation als Musizier- und Lebensform.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Klaus Näumann (2008): Improvisation: Über ihren Gebrauch und ihre Funktion in der Geschichte des Jazz. In: Ronald Kurt und Klaus Näumann (2007) (Hg.): Menschliches Handeln als Improvisation. Sozial- und Musikwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld, 133-157.
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Ronald Kurt (2005): Die Hinduisierung Indiens. In: Gernot Saalmann (Hg.)'. Religionen und Nationen: Fundamente und Konflikte. Villigst Profile. Schriftenreihe des Evangelischen Studienwerks e.V. Villigst, Band 6. Münster: Lit. 159-170.
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Ronald Kurt (2005): Wege zum Verstehen fremder Musikkulturen. In: Programmheft der Philharmonie Essen vom 24.09.2005 zum Abschlusskonzert des interkulturellen Lehr- und Lernprojektes: Indische Musik - Europäische Musik. 5-7.
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Ronald Kurt (2006): Europa und Indien im musiksoziologischen Kulturvergleich. Ein Beitrag zur interkulturellen Hermeneutik. In: Soziale Ungleichheit, Kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004. Herausgegeben von Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt am Main: Campus, 3934-3943.
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Ronald Kurt (2006): Max Weber und Indien. Perspektiven und Probleme der Kulturvergleichenden Musihoziologie. In: Jörn Rüsen (Hg.): KWI-Jahrbuch 2005. Bielefeld, 299-312.
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Ronald Kurt (2007): Die interkulturellen Grundlagen kultureller Identität. In: Michael Kastner, Eva Neumann- Held, Christine Reick (Hg.): Kultursynergien - Kulturkonflikte. Lengerich, Berlin u.a.: Pabst. 33-54.
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Ronald Kurt (2007): Indische Musik - Europäische Musik. Möglichkeiten und Grenzen interkulturellen Verstehens. In: Peter Stegmeier und Jochen Dreher (Hg.): Die Unüberwindbarkeit kultureller Differenz. Bielefeld, 183-211.
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Ronald Kurt (2007): Musikstudenten aus Indien und Europa im interkulturellen Sozialisationsprozess: Kein Spiel ohne Grenzen. In: Renate Müller, Udo Göttlich et al. (Hg.): Arbeit, Spiel und Vergnügen in Jugendkulturen. Weinheim und München: Juventa. 193-206.
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Ronald Kurt (2008): Komposition und Improvisation als Grundbegriffe einer allgemeinen Handlungstheorie. In: Ronald Kurt und Klaus Näumann (2007) (Hg.): Menschliches Handeln als Improvisation. Sozial- und Musikwissenschaftliche Perspektiven. Bielefeld, 17-46.