Zuschreibung von Verantwortung in den Rechtsmeinungen von Bürgerinnen und Bürgern
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Zentral für das Projekt war die Fragestellung, ob sich die gegenwärtigen Individualisierungstendenzen in der Sozial- und Kriminalpolitik im Alltagsverständnis dergestalt widerspiegeln, dass strafrechtliche Verantwortung vornehmlich individualisierend zugeschrieben wird. Angenommen wurde, dass die derzeitig massiven Forderungen nach Eigenverantwortung in vielen gesellschaftlichen Lebensbereichen den Eindruck entstehen lassen, als hänge die Übernahme von Handlungsverantwortung vor allem am Wollen des Individuums. Es stellte sich die Frage, ob Interviewte bereit sein werden, sozial bedingte Handlungsumstände von Akteuren in ihrem Urteil über Rechtsstöße zu berücksichtigen. Das Arbeitsleben wurde als das wesentlichste Feld für Verantwortungserfahrungen gesehen, was zu der Annahme führte, dass Personen mit mehr oder weniger beruflicher Verantwortung unterschiedlich urteilen würden. Die Ergebnisse zeigen, dass die befragten Laien bei der Zuschreibung von Verantwortung und Schuld für einen Rechtsverstoß keine Bezüge zur gegenwärtigen Sozial- und Kriminalpolitik herstellen und sehr wohl das Akteurshandeln in seinen sozial bedingten Umständen wahrnehmen. Inwieweit jedoch ungünstige Handlungsbedingungen eine Schuldminderung begründen können oder nicht, hängt vor allem an der Art des Rechts Verständnisses: Folgt dieses einem funktionalistischen (oder prinzipienhaften) Verständnis von Recht, wird verlangt, dass der Rechtsverstoß geahndet und eine Schuldminderung aufgrund sozial bedingter Handlungsumstände grundsätzlich ausgeschlossen wird. Dagegen öffnet sich ein integratives Verständnis von Recht einer "Moral der Umstände" die eine Abwägung zwischen schuldbe- und entlastenden Gründen hinsichtlich sozial bedingter Umstände ermöglicht. Eine Schuldminderung wird vor allem dann gesehen, wenn Akteure mit dem Rechtsverstoß positive Folgen für Dritte erreichen konnten und somit sozialer Verantwortung nachgekommen sind, während besonders negative Folgen wie tödliche Verletzungen die Prüfung einer Schuldminderung explizit ausschließen. Deutlich wird, dass sich die Zuschreibung von rechtlicher Verantwortung im Alltagsverständnis vor allem an normativen Kriterien orientiert. Dabei wird sowohl auf die Verletzung von rechtlichen Verhaltensnormen wie auch auf rechtliche Zurechnungskriterien Bezug genommen. Daneben gewinnen aber auch gesellschaftliche Verantwortungsparadigmen große Bedeutung, die auf der Grundlage moralischer oder sittlicher Normen die Handlungsverantwortung im Rahmen bestimmter sozialer Rollen oder Aufgaben vorgeben. Da Akteure verschiedenen sozialen Rollen gerecht werden müssen, kann im Fall eines leichten Deliktes die Kollision ihrer Pflichten durchaus eine Schuldminderung begründen. Alles in allem lässt sich auf Grund der Ergebnisse vermuten, dass sozial bedingte Handlungsumstände im Schuldurteil von Laien nur dann Bedeutung gewinnen, wenn die normative Bewertung dies zulässt. Dabei haben sich keine Unterschiede im Urteilsverhalten aufgrund eines unterschiedlichen beruflichen Status, der Herkunft aus Ost- und Westdeutschland oder des Geschlechts finden lassen. Lässt sich demnach bei Laien in der Verantwortungszuschreibung an Dritte die Berücksichtigung sozial bedingter Handlungsumstände beobachten, so gilt das nicht in gleicher Weise für die .Personenkonzepte der Verantwortung', mit denen die Idealvorstellungen oder Selbstkonzepte der Befragten über eine verantwortliche Person erfasst wurden. Solche ließen sich aus den Äußerungen über eigene Verantwortungserfahrungen und über die Verantwortung Dritter herausdeuten. Erkennbar wird ein expliziter Unterschied zwischen der Fremd- und der Selbstzuschreibung von Verantwortung: in Bezug auf die eigene Person gibt es eine große Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, die nicht an nötige soziale, sondern vornehmlich nur an personale Eigenschaften wie "Selbstständigkeit". "Selbstbewusstsein", "eigenverantwortliches Suchen und Nutzen von Handlungsalternativen" oder "Mut zum Risiko" etc. gebunden wird. Als Ziel für Eigenverantwortung wird sowohl die Sicherung des eigenen Daseins als auch die soziale Verantwortung für nahestehende Menschen angegeben. Überraschenderweise spielt die reale Zugangsmöglichkeil zum Arbeitsleben dabei keine Rolle, denn die Personenkonzepte von .Leistungsträgem', ,qualifizierten Arbeitnehmern' sowie von ,Leistungsempfängern' differieren nicht im grundlegenden Verständnis von Verantwortlichkeit, sondern allenfalls in der Differenziertheit der Formulierung, die vermutlich dem unterschiedlichen Bildungsgrad geschuldet ist. Zusammenfassend kann festgestellt werden: Beobachten lässt sich die Bereitschaft zur sozialen Einbettung der Verantwortungszuschreibung an Dritte, während sich in den Selbstkonzepten eine individualisierende Konzeption von Verantwortung ausdrückt.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Günther, Klaus: Aufgaben- und Zurechnungsverantwortung. In: Ludger Heidbrink und Alfred Hirsch (Hg.): Verantwortung in der Zivilgesellschaft, Frankfurt/New York 2006, S. 295-330. Günther, Klaus: Himforschung und strafrechtlicher Schuldbegriff. In: Kritische Justiz 2/2006, S. 116-133.
- Günther, Klaus: Kritik der Strafe I. In: WestEnd, 2/2004, S. 117-132.
- Günther, Klaus: Kritik der Strafe II. In: WestEnd, 1/2005, S. 131-141.
- Günther, Klaus: Schuld und kommunikative Freiheit. Studien zur personalen Zurechnung strafrechtlichen Unrechts im demokratischen Rechtsstaat, Frankfurt am Main 2005.
- Günther, Klaus: Verantwortlich für die eigene Tat? In: Forschung-Frankfurt 4/2005, S. 26-31.
- Günther, Klaus: Verantwortung in vemetzten Systemen. In: Gerhard Gamm und Andrea Hetzel (Hg.): Unbestimmtheitssignaturen der Technik, Bielefeld 2005, S. 337-355.
- Günther, Klaus:,Individualisierungstendenzen im Strafrecht'. Vortrag auf der Tagung ,Individualisiemng sozialer Konflikte und Integration durch Recht.' Gemeinsame Veranstaltung der DGS-Seklion ,Rechtssozioiogie', der Vereinigung für Rechtssoziologie e.V. und des Instituts für Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main November 2007,
- Heitzmann, Barbara/Nogueira, Marc P./ Günther, Klaus: Man muss nur wollen? Zur Ambivalenz der Verantwortung. In: Forschung-Frankfurt 2/2008, S. 46-49.
- Heitzmann, Barbara: 'What Perceptions Do People Have ofthe Just Attribution of (Criminal) Legal Responsibility?'. Lecture at the Law and Society Conference, Juli 2007 in Berlin.
- Heitzmann, Barbara: AUeine schuld? Die Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortung im Laien- Rechtsverständnis. In: Zeitschrift für Rechtssoziologie 29/2 2008, S. 205-234.
- Heitzmann, Barbara: Die neue Eigen Verantwortung. Jüngste Tendenzen in Managementkonzepten, Sozial- und Rechtspolitik. In: Kursbuch 157, Berlin 2004, S. 68-77.
- Heitzmann, Barbara: What Perceptions Do People Have of the Just Attribution of Criminal Responsibility? Berlin 2007 (Siehe online unter: www.lsa-beriin.org/confemece-papers/4225-Heitzmann. pdf )
- Heitzmann, Barbara: Wie individualisierend ist die Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortung im Laienrechtsverständnis? Vortrag auf der Tagung ,Individualisierung sozialer Konflikte und Integration durch Recht, gemeinsame Veranstaltung der DGS-Sektion ,Rechtssoziologie', der Vereinigung für Rechtssoziologie e.V, und des Instituts für Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, November 2007.
- Heitzmann, Barbara:, Individualisierende Tendenzen in der Kriminalpolitik und die Integrationskraft des Rechls.' Geplanter Vortrag auf Einladung der Direito GV- Juristische Fakultät der Getulio Vargas Sliftung in Säo Paulo im Rahmen des Deutsch-brasilianischen Kongresses , Verantwortung und Strafe im demokratischen Rechtstaat' Sao Paulo September 2009.
- Moser, Valerie: Die Zuschreibung von Verantwortung als soziale Praxis. Erste Ergebnisse aus einem Forschungsprojekl. In: Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung 1/2008.