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Phänotypen und Kausalität von Gewalt in Lateinamerika: Hohe Gewaltintensität in Kolumbien, Mexiko, El Salvador und Guatemala versus niedrige Gewaltintensität in Costa Rica und Nicaragua

Fachliche Zuordnung Politikwissenschaft
Förderung Förderung von 2004 bis 2010
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 5435965
 
Erstellungsjahr 2011

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Im Projekt wurde zunächst der Stellenwert einschlägiger Formen gegenwärtiger Gewaltkriminalität in Zentralamerika erhoben, um dann mit den Maras, der Lynchjustiz und den Femiziden die in der Literatur am stärksten diskutierten Gewaltformen zu analysieren. Vor allem ging es jedoch darum, ein kriminologisch-theoriegeleitetes und politikwissenschaftlich unterfüttertes Kausalmodell zu entwickeln, mit dem über einen variablenorientierten qualitativen Vergleich die Frage beantwortet werden kann, warum es in Zentralamerika mit Honduras, El Salvador und Guatemala eine Gruppe von Staaten mit hohen Homizidraten und mit Nicaragua und Costa Rica eine andere Gruppe mit weit darunterliegenden Homizidraten gibt. Nicaragua erwies sich als ein besonderes Rätsel, da es trotz Armut, sozialer Ungleichheit und erheblichen Demokratiedefiziten relativ niedrige Gewaltraten aufweist. Zur Lösung dieses Rätsels wurde deduktiv und induktiv vorgegangen. Die induktive Methode wurde durch 248 Experteninterviews im Rahmen von Feldforschung in den fünf Ländern Zentralamerikas, in Großbritannien und den USA gestützt. Deduktiv wurden zunächst Möglichkeits- und (fehlende) Verhinderungsstrukturen unterschieden. Diese wurden in ein kombiniertes kriminologisches Modell eingebunden. Es stützt sich zum einen auf einen ätiologisch-ökologischen Ansatz, der auf Anomie- und Drucktheorien (einschl. Theorien der relativen Deprivation) und Theorien der sozialen Desorganisation zurückgreift. Zum andern nimmt das Modell eine Kontroll-Gleichgewichts-Theorie auf, demzufolge sowohl ein Defizit als auch ein Surplus an Kontrolle zu abweichendem Verhalten (darunter Kriminalität) führen kann. Im nächsten Schritt wurden aus politikwissenschaftlicher bzw. politökonomischer Perspektive Verankerung und innere Konfiguration der Möglichkeitsstrukturen für Gewaltkriminalität politisch aus Regime-Hybridität, also aus Regimen, in denen demokratische und nichtdemokratische Segmente koexistieren, und politökonomisch aus der Rentenökonomie abgeleitet. Hier war das zentrale Argument: Wenn nicht Kapital und Arbeit, sondern Renten und Beschränkung von Arbeit einander gegenüberstehen und somit kein Fließgleichgewicht von Angebot und Nachfrage garantiert ist, legt das Opportunitätskostenargument insbesondere den Subalternen - indirekt - nahe, nach einem zur Arbeit alternativen Zugang zu Markt und Gewinn zu suchen. Dafür bietet sich Gewalt als schnell und einfach verfügbares Substitut an, mit dem die Kluft zwischen Ziel und (fehlenden) legitimen Mitteln geschlossen werden soll. In diesem Zusammenhang konnte eine Kausalbeziehung zwischen neuen Renten und Rentenäquivalenten (insbesondere Remittances, aber auch Maquila und Effektenrenten) einerseits sowie hoher Gewaltintensität andererseits nachgewiesen werden. Die Verankerung und innere Konfiguration der (fehlenden) Verhinderungsstrukturen wurde dagegen nur aus Regime-Hybridität, und hier insbesondere aus der mangelnden Leistungsfähigkeit des staatlichen Sicherheitssektors abgeleitet. Zusammengefasst wurden die Bestimmungsfaktoren der hohen Gewaltraten in El Salvador, Honduras und Guatemala und der im Vergleich dazu niedrigen Gewaltraten Costa Rica und Nicaragua identifiziert: 1) Von zentraler Bedeutung ist eine im Kontext gegenwärtiger Globalisierung besonders hohe Migrations- und damit verbundene Remittances-Rate (zum Teil auch Maquila-Rate), die die Devisen-, Surplus- und Einkommensstruktur des jeweiligen Landes mindestens so radikal gewandelt hat wie einst dessen Eintritt in den Agrarexport und später in die importsubstituierende Industrialisierung. Wenn es das Scheitern dieser Industrialisierung ist, das zusammen mit anderen Faktoren ursächlich für die Bürgerkriege in Zentralamerika war, hat der Wandel zu einer Ökonomie neuer Renten bzw. Rentenäquivalenten einen ähnlichen Kausaleffekt auf die Gewalt nach Bürgerkriegen. 2) Hinzu kommt ein sich über weite Strecken mit Repressivität verbindender defizitärer Sicherheitssektor (Polizei, Justiz und Strafvollzug), aber auch ein mangelndes demokratisches Engagement der Zivilgesellschaft im Bereich der Sicherheit. Der erste Faktor - der beispiellose Exodus der Salvadorianer, Guatemalteken und Honduraner in die USA und die dem folgenden Remittances - erklärt im Wesentlichen, als Möglichkeitsstruktur, die hohe Gewaltrate an sich. Der zweite Faktor - die defizitäre und inzwischen gleichzeitig repressive Performanz des Sicherheitssektors - erklärt dagegen als fehlende Verhinderungsstruktur die Dynamik der Gewaltraten über Zeit, also die einer Sinuskurve ähnelnde Entwicklung der Homizidraten. Das aus kriminologischer Perspektive durchgeführte ‘process tracing‘ zeigte, dass Möglichkeitsstrukturen für hohe Gewaltkriminalität von Anomie und sozialer Desintegration geprägt sind, die, vermittelt über relative Deprivation, sozialen Druck erzeugen. Dieser Druck entlädt sich dann in gewaltkriminellem Handeln, wenn er nicht durch Verhinderungsstrukturen aufgefangen wird, die auf einem Gleichgewicht formeller und informeller Kontrolle potenzieller Täter beruhen - ein Gleichgewicht, das ein Kontrolldefizit genauso ausschließt wie einen Kontrollüberschuss. Es wurde schließlich demonstriert, dass und wie über zwei verschiedene Wege Gewalteinhegung gelingen kann: Niedrige Gewaltintensität kann durch die Kombination von Demokratie (als Wertorientierung und Verfahrensweise) und Marktwirtschaft (als empowerment von Arbeit im Rahmen einer auf Diversifizierung bedachten Industriepolitik) erreicht werden (Costa Rica). Oder aber sie wird dadurch erreicht, dass bei gegebener Regime-Hybridität und Rentenökonomie durch eine entsprechende Gewalthegungspolitik die Entstehung jener spezifischen Konfigurationen vermieden wird, die in El Salvador, Guatemala und Honduras die hohen Gewaltraten begründen. Der zweite Weg, den Nicaragua eingeschlagen hat, ist für die Länder mit hohem Gewaltniveau zwar schwerer zu gehen als das für Nicaragua bisher der Fall gewesen ist. Er ist aber für die gewaltbeladenen Länder offenbar eher gangbar als der „europäische" Weg einer anspruchsvollen Kombination von Demokratie und Marktwirtschaft.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

 
 

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