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Mittelalterliche Ethik und Anthropologie im interkulturellen Kontext. Von der Gleichheit der Seelen zur rationalen Grundlegung des Naturrechts

Fachliche Zuordnung Mittelalterliche Geschichte
Förderung Förderung von 2005 bis 2013
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 5453441
 
Erstellungsjahr 2012

Zusammenfassung der Projektergebnisse

An der Diskussion um die Gleichheit der Seelen zeigt sich exemplarisch, wie ein im 12. Jahrhundert eher beiläufig angestoßener Diskurs bis in die Gegenwart wirkmächtig bleibt und in besonderem Maße zur Entwicklung eines für moderne Gesellschaften grundlegenden Menschenbildes beiträgt. Dabei schreiben sich auf diesem langen Weg sowohl der Kontext, in dem der Diskurs seinen Ursprung findet, als auch kleine, zum Teil unscheinbare Ereignisse in die Geschichte des Diskurses ein und hinterlassen in der ein oder anderen Weise ihre Spuren. Dass die substantielle Gleichheit der Seelen und damit der Menschen von Anbeginn nicht selbstverständlich ist, sondern sich im Laufe der Geschichte erst als unhintergehbare, grundlegende Annahme ausbilden muss, und somit auch immer wieder in Frage gestellt werden kann, haftet dem Diskurs gleichsam wie ein Mangel an, der auf jenen Moment hinweist, in dem der Diskurs seinen eigentlichen Anstoß erfährt. Bei der Diskussion, wie sich die Taufe auf die Erbsünde auswirkt und wie eben jene Erbsünde den Seelen bei ihrer Verbindung mit dem Körper eignet, kommt Petrus Lombardus zu der Frage, ob eben jene Seelen von der Schöpfung her in ihren natürlichen Gaben gleich sind. Durch das Eindringen der aristotelischen Psychologie wurden die Probleme, die eine Leugnung substantieller Gleichheit aufwarf, virulent. Die Seele als "forma corporis" ist das, was den Mensch zum Menschen macht, sie ist das Wesensmerkmal, welches das einzelne Individuum der Spezies Mensch zuordnet. Damit die einzelnen Menschen nicht verschiedenen Arten angehören, muss diese Seele substantiell bei allen Menschen gleich sein und kann sich nur akzidentiell unterscheiden. Bereits 1277 erfuhr das Amalgam einer theologisch verwandelten aristotelischen Psychologie einen ersten Dämpfer, indem eine die Gleichheit betreffende These verurteilt wurde, weil 'dann die Seele Christi nicht edler als die Seele des Judas wäre.' Der sogenannte "doctor modernus", Durandus de St. Porciano, war dann der erste, der es wieder wagte, gegen einen den kirchlichen Belangen konform ausgelegten Thomas von Aquin die Gleichheit der Seelen unmissverständlich festzustellen. An ihn reiht sich eine kontrovers geführte Diskussion bei fast allen namhaften Autoren der Hoch- und Spätscholastik: Thomas von Straßburg, Aegidius Romanus, Heinrich von Gent, Kardinal Cajetan, Johannes Capreolus und viele andere. Mit dem Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit findet - zumindest was den systematischen Ort, an dem die Diskussion geführt wird - eine Säkularisierung statt. Die Diskussion wird nicht mehr in den Kommentaren zu dem theologischen Lehrbuch schlechthin geführt, sondern sie verschiebt sich in die Kommentare zu den aristotelischen Schriften "De anima", Metaphysik und "De generatione et corruptione". Damit wird die Diskussion immer mehr des theologischen Rahmens und der theologischen Argumente entkleidet, um auf rein naturphilosophischer Basis geführt zu werden. Vor allem die Jesuitenscholastik zeichnet sich durch ein klares und fast durchgängiges Bekenntnis zur Gleichheit aus. Freilich haftet der Erbsündenkontext, in dem der Diskurs angestoßen wurde, auch jetzt noch der Gleichheit an. Da die Erbsünde gerade in protestantischen Kreisen immer wieder auf die Substanzialität der Seele bezogen wird und diese in ihrem Wesen beschädigt, ist es ein wesentlicher Moment der ersten protestantischen Metaphysik von Nicolaus Taurellus, dieser Möglichkeit jede Grundlage zu entziehen. Dieselbe Erkenntnisfähigkeit, die es vor dem Sündenfall gab, ist auch jetzt in allen Menschen in gleicher Weise vorhanden. Überraschend ist, dass es im Rahmen dieses Diskurses einen nur sehr geringen Reflex auf die Entdeckung der Neuen Welt und der dortigen Einwohner gibt. Obgleich manche die Indios als geringere Menschen abzustempeln suchten, um ihrer Ausrottung Vorschub zu leisten, was wieder von anderen abgelehnt wurde, deren Haltung, die Menschlichkeit der Indios anzuerkennen, sich auch durchsetzte, hinderte dies doch nicht, dass trotz der formal akzeptierten Gleichheit, eine gerechte Gleichbehandlung praktisch nirgends stattfand.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Die Unsterblichkeit der Seele und der epistemologische Status der Psychologie im Aristotelismus des 16. Jahrhunderts. In: Der Aristotelismus in der Frühen Neuzeit – Kontinuität oder Wiederaneignung? Hrsg. v. G. Frank und A. Speer, Wiesbaden: Akademie-Vlg, 2007 (Wolfenbüttler Studien, Bd. 115), S. 191-214.
    Henrik Wels
  • Gewalt im Kontext der Kulturen. In: Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet neue Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft, hg. v. M. Borgolte, J. Schiel, B. Schneidmüller, A. Seitz, Berlin.Akademie Vlg, 2008, S. 305-555.
    H. Wels, W. Deimann, T. Foerster, S. Gerogiorgakis, H. Hiltmann, K. P. Jankrift, C. Jochum-Godglück, D. König, S. Küçükhüseyin, J. Rüdiger, A. Schorr
  • Die substanzielle Gleichheit der menschlichen Seelen im frühneuzeitlichen Aristotelismus. In: Der Aristotelismus an den europäischen Universitäten der frühen Neuzeit, hrsg. v. Rolf Darge, Emmanuel J. Bauer, Günter Frank, Stuttgart: Kohlhammer, 2010, S. 269-290.
    Henrik Wels
  • Durandus de St. Porciano – ein Wendepunkt in der Debatte um die Gleichheit der Seelen?. In: 1308. Eine Topographie historischer Gleichzeitigkeit, hrsg. v. Andreas Speer und David Wirmer, Berlin/New York 2010 (Miscellanea Mediaevalia 35), S. 370-387.
    Henrik Wels
  • Zum anthropologischen Diskurs des Spätmittelalters auf der iberischen Halbinsel und seiner Bedeutung für die hispanische Expansionspolitik. In: Christlicher Norden – Muslimischer Süden. Ansprüche und Wirklichkeiten von Christen, Juden und Muslimen auf der iberischen Halbinsel im Hoch- und Spätmittelalter, hrsg. v. M. Tischler und A. Fidora, Münster 2011 (Erudiri Sapientia, Bd. VII), S. 505-521.
    Henrik Wels
  • „Und warum glaubst du dann nicht?“ Zur ambivalenten Funktion der Vernunft in Religionsdialogen des 12. Jahrhunderts. In: Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter, hg. v. M. Borgolte, J. Dücker, M. Müllerburg, B. Schneidmüller, Berlin 2011, S. 267-330.
    Henrik Wels, Marcel Müllerburg, Britta Müller-Schauenburg
    (Siehe online unter https://dx.doi.org/10.1524/9783050056005.259)
  • Nicolaus Taurellus, Triumph der Philosophie - Philosophiae triumphus (Basel 1573), lateinisch-deutsch, übers. und eingel. von Henrik Wels, 2012 (Editionen zur Frühen Neuzeit, Bd. 3), ISBN 9783772823749.
    Henrik Wels
  • Anthropology Before and After the Discovery of America: Continuity and Change in the Question of the Sameness of Souls. In: Between Creativity and Norm-Making. Tensions in the Early Modern Era, ed. by S. Müller and C. Schweiger, Leiden/Boston 2013 (Studies in Medieval and Reformation Traditions, vol. 165), S. 149-163.
    Henrik Wels
  • Die Geburt der Gleichheit aus dem Geist der Erbsünde. Taurellus’ Triumph der Philosophie im Kontext. In: Die Reformation und ihr Mittelalter, hrsg. v. Günter Frank u. Volker Leppin, 2015, (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten, Bd. 14).
    Henrik Wels
 
 

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