Eigenständigkeit durch Integration. Die Erinnerung an die heidnische Vorzeit als Element der Konstruktion ethnisch-regionaler Identität an der Peripherie Europas im Hoch- und Spätmittelalter
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Erinnerung an die heidnische Vergangenheit in den Reichen an der nördlichen Peripherie des hoch- und spätmittelalterlichen Europa diente nicht in erster Linie der historiographischen Bewältigung der eigenen Verspätung, sondern der Konstruktion der paganen Vorzeit als Referenzpunkt der Ausbildung einer eigenen kulturellen und politischen Identität. Dies lässt sich besonders gut für die westnordischen Gebiete Island und Norwegen zeigen. Anders als im ostnordischen Raum setzte hier verhältnismäßig früh – während des 12. Jahrhunderts – eine intensive volkssprachige Textproduktion ein, die im Gegensatz zu den überwiegend ausserhalb Skandinaviens verfassten lateinischen Quellen zur nordeuropäischen Christianisierungsgeschichte einen direkten Umgang mit der heidnischen Vorzeit entwickelte. Während diejenigen Texte, die im Auftrag norwegischer Herrscher entstanden, dazu tendieren, die in der lateinisch-christlichen Tradition transportierte pejorative Sichtweise auf das Heidentum zu übernehmen, bieten vor allem die isländischen Vergangenheits- und Vorzeitsagas eine ambivalente Perspektive auf die vorchristliche Epoche Nordeuropas. Da die altisländische Sagaliteratur etwa ein bis zwei Jahrhunderte nach der öffentlichen Annahme des Christentums durch die Isländer verfasst wurde, war davon auszugehen, dass es sich bei den darin enthaltenen Darstellungen des Heidentums nicht etwa um Versuche einer historisch korrekten Schilderung paganer Gebräuche und Traditionen handelte. Vielmehr präsentieren die Texte eine Idee der heidnischen Vorzeit, die maßgeblich von der Perspektive christlicher Verfasser des Hoch- und Spätmittelalters geprägt ist. Daher sollte im Rahmen der Projektarbeiten vor allem der Frage nachgegangen werden, welche Elemente der konstruierten vorchristlichen Vergangenheit in den untersuchten Texten positiv beziehungsweise negativ bewertet werden und welche Gründe die christlichen isländischen Verfasser zu einer derartigen idealisierenden respektive pejorativen Sichtweise bewogen haben könnten. Außerdem war zu klären, inwiefern die unterschiedlichen Bilder von der paganen Frühzeit Islands mit positiv oder negativ konnotierten christlichen Gegenbildern kontrastiert werden und welche Bedeutung solche Gegensatzpaare zur Zeit der Verschriftlichung der altisländischen Sagatexte hatten. Art, Umfang und Entstehungshintergründe legten eine Konzentration der Untersuchungen auf den isländischen Raum des 12. bis 14. Jahrhunderts nahe. Im 13. Jahrhundert erlebte Island aufgrund bürgerkriegsähnlicher Zustände eine innere wie äußere Instabilität, die es dem zeitgleich erstarkenden norwegischen Königreich ermöglichte, die Insel als tributpflichtiges Land zu integrieren. Im Zuge des sukzessive erfolgenden und bis ins 14. Jahrhundert andauernden Integrationsprozesses verhandelten die Isländer intensiv über die Festschreibung ihrer eigenen Geschichte, die Definition ihrer eigenen Traditionen und über die Etablierung ihres eigenen unabhängigen Status. Diese Verhandlungen fanden ihren Niederschlag in der altisländischen Sagaliteratur, deren produktiver Höhepunkt ebenfalls ins 13. und frühe 14. Jahrhundert datiert. Während die bisherige Forschung dazu neigte, lediglich die Gattung der so genannten Gegenwartssagas zur Erforschung der hoch- und spätmittelalterlichen isländischen Verhältnisse heranzuziehen, verfolgte das Projekt den bislang wenig verbreiteten und daher innovativen Ansatz, auch die Vergangenheits- und Vorzeitsagas, die sich weitgehend mit der heidnischen Vor- und Frühgeschichte Islands befassen, als Zeugnisse für die von sozialen wie politischen Unruhen und Umbrüchen geprägte isländische Geschichte des 13. und 14. Jahrhunderts zu interpretieren. Im Rahmen der Untersuchungen zeigte sich, dass gerade die in den Vergangenheits- und Vorzeitsagas transportierten Männlichkeitsvorstellungen und die mit diesen assoziierten Konzeptionen von politischer und sozialer Ordnung nicht als postpagane Reminiszenzen, sondern als literarische Konstrukte der Entstehungszeit des altisländischen Quellenmaterials zu verstehen sind. Die Tatsache, dass die unterschiedlichen Aspekte von Maskulinität in den Sagas sowohl positiv als auch negativ konnotiert sein können, spiegelt die gesellschaftspolitischen Realitäten des hoch- und spätmittelalterlichen Island. Die Quellenverfasser, die – soweit sie bekannt sind – selbst politische Akteure waren, bedienten sich aus demselben Arsenal tradierter Motive, versuchten jedoch durch idealisierende oder pejorative Darstellung derselben Phänomene die Deutungshoheit über zeitgenössische Konzepte von Männlichkeit und politischer Ordnung zu gewinnen. Dabei dienten ihnen die Vergangenheits- und Vorzeitsagas als Präsentationsmedium eines zeitgenössischen Diskurses, der auf Island über die Entwicklung des isländischen Mannes zum norwegischen Gefolgsmann geführt wurde. Da eine direkte Auseinandersetzung mit den kontemporären gesellschaftlichen und politischen Veränderungen aufgrund der komplizierten isländisch-norwegischen Beziehungen im 13. und 14. Jahrhundert riskant war, wurde die mythische Vergangenheit von den Verfassern als literarische Kontrastfolie entworfen. Mit dem weitgehenden Abschluss des isländischen Integrationsprozesses während des 14. Jahrhunderts war die Sagagattung als Präsentationsmedium aktueller Diskurse und Konflikte obsolet geworden und verlor an Bedeutung.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Gewalt und Disput: Missverständnisse und Gewaltvermeidung im europäischen Norden. In: Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft (Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik, Bd. 10), hg. v. Michael Borgolte/Juliane Schiel/Bernd Schneidmüller/Annette Seitz, Berlin 2008, S. 400-405
Heiko Hiltmann
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Gewalt und Geschlecht. Einleitung. In: Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft (Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik, Bd. 10), hg. v. Michael Borgolte/Juliane Schiel/Bernd Schneidmüller/Annette Seitz, Berlin 2008, S. 433-443
Wiebke Deimann/Heiko Hiltmann
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Todeskampf, Coitus und weibliche Unterwerfung in zwei Versionen eines mittelbyzantinischen Liedes. In: Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft (Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik, Bd. 10), hg. v. Michael Borgolte/Juliane Schiel/Bernd Schneidmüller/Annette Seitz, Berlin 2008, S. 454- 458
Stamatios Gerogiorgakis/Heiko Hiltmann
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Von nackten Brüsten und blanken Schwertern. Offensive Formen der weiblichen Brustentblößung am Beispiel der Eiríks saga rauða, K. 11. In: Und sie erkannten, dass sie nackt waren (Bamberger Interdisziplinäre Mittelalterstudien, Bd. 1), hg. v. Stefan Bießenecker, Bamberg 2008, S. S. 413-436
Heiko Hiltmann
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Waffen und Waffenfähigkeit als unverzichtbare Attribute des Helden. In: Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft (Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik, Bd. 10), hg. v. Michael Borgolte/Juliane Schiel/Bernd Schneidmüller/Annette Seitz, Berlin 2008, S. 480-482
Heiko Hiltmann
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Þornbjörg, eigenmächtige Königstochter der ‚Hrólfs saga Gautrekssonar’. In: Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft (Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik, Bd. 10), hg. v. Michael Borgolte/Juliane Schiel/Bernd Schneidmüller/Annette Seitz, Berlin 2008, S. 449-454
Heiko Hiltmann
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Das Tier im Mann – Altnordische Tierkriegererzählungen. In: Tiere im Krieg. Von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Rainer Pöppinghege, Paderborn 2009, S. 181-197
Heiko Hiltmann