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Improvisation als "neuer" Handlungstypus. Eine handlungstheoretische Modellierung des musikalischen Improvisierens

Subject Area Sociological Theory
Term from 2005 to 2010
Project identifier Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Project number 5454637
 
Final Report Year 2011

Final Report Abstract

Das empirische Forschungsprojekt hatte zum Ziel, musikalisches Improvisieren aus handlungstheoretischer Perspektive zu untersuchen und es exemplarisch als besonderen Typus menschlichen Handelns zu charakterisieren. Beim Improvisieren findet sowohl kreatives als auch automatisches Handeln gleichzeitig statt. Während kreatives Handeln die Hervorbringung von Neuem in die Welt ermöglicht und Eigenschaften wie Flexibilität und Expressivität im Handeln erfordert, setzt automatisches Handeln sich wiederholendes, unflexibles Verhalten voraus. Die Forschungsfrage dieses Vorhabens lautete daher: Wie ist bei der musikalischen Improvisation diese simultane Kombination von Kreativität und Automatismus möglich? Um dieser Forschungsfrage nachzugehen, wurde eine empirische Untersuchung von Improvisationsprozessen in Free Jazz und Flamenco durchgeführt. Im Laufe der Untersuchung stellte sich heraus, dass die Interaktion zwischen den Handelnden einen konstitutiven Faktor ihres Handelns darstellt, so dass diese Dimension in die Charakterisierung des Improvisierens integriert werden muss. Die egologische Perspektive der Ausgangsfrage wurde dadurch überwunden. Weiterhin wurde festgestellt, dass Improvisieren keinen eigenständigen Typus des Handelns darstellt, sondern in allem Handeln in unterschiedlicher Gradierung vorhanden ist. Beide Feststellungen führten zu einer Verfeinerung der Untersuchung, um eine genauere Explikation des Improvisierens zu erzielen. Das Ergebnis ist ein Modell, das Improvisationsprozesse aus dreifacher Perspektive – wissenssoziologisch, handlungstheoretisch und interaktionstheoretisch – betrachtet. Der Kreativitäts- und Improvisationsgrad ist hier eine Funktion der jeweiligen Ausprägung von vier voneinander abhängigen Dimensionen, die sich bei der Datenanalyse herauskristallisierten: 1) das (musikalische) Material, 2) die Interaktion zwischen den Spielenden, 3) die Haltung des Akteurs und 4) die (emergente) Musik. Musikalisches Material – das Wissen und Können der handelnden Musiker/innen – ermöglicht ihnen spontanes, automatisches aber auch kreatives Handeln. Das Material stellt die musikalischen Ressourcen zur Verfügung, die im Laufe des Improvisierens transformiert und an die Spielsituation angepasst werden. Automatismus ist hier ein Resultat intensiven Lernens und Übens und ist insbesondere ausschlaggebend für das Spielen von inkorporiertem Material. Kreatives Handeln transformiert es in der Interaktion. Die Formbarkeit des Materials, die Spielerfahrung des Handelnden, und die Vielfalt des zur Verfügung stehenden Materials sind zentrale Faktoren, die sich in den weiteren drei Dimensionen sowie auf den Grad der Kreativität und der Improvisation auswirken. Die Interaktion stellt einen konstitutiven Faktor für das individuelle Handeln dar, insofern das eigene Spielen/Singen in Improvisationsprozessen sich am Handeln der Anderen in erheblichen Maßen orientiert, beispielsweise in der Form von Frage/Antwort Dynamiken, als Imitation etc. Das Modell arbeitet insofern multiperspektivisch, als es nicht nur die individuelle, sondern auch die Interaktionsebene mit einbezieht. Die variable Intensität der Interaktion ist durch den Strukturierungsgrad des Materials bedingt sowie durch die Haltung des Handelnden und die aktuell gespielte Musik. Mit „Haltung“ ist der Bezug der Handelnden zur Kontingenz in der Spielsituation gemeint: die „Bereitschaft“, Unvorhergesehenes, Ungeplantes und Zufälliges in ihr Handeln aufzunehmen und in die Musik, die sie spielen, zu integrieren. Diese Haltung kann offener (höhere Bereitschaft) oder geschlossener (niedrigere Bereitschaft) sein. Eine offene Haltung ermöglicht den Musizierenden, sich auf die „Angebote“ der Anderen, die als Inputs für das eigene Handeln fungieren, zu beziehen. Je offener die Haltung, desto mehr wird Improvisieren ermöglicht. Eine geschlossene Haltung zielt dagegen darauf, entworfene Handlungen ohne Bezug auf das Spielen der Anderen durchzuführen. Die Form der Musik, die in der aktuellen Performanz – im Spielprozess – gespielt wird, kann – je nachdem, ob es sich eher um komponierte und gerade interpretierte oder eher um improvisierte Musik handelt – vor dem Spielprozess in der Partitur vorgegeben sein (das eine Extrem: Symphonische Musik) oder sich im Spielprozess ergeben (das andere Extrem: Free Jazz). Das letzte Extrem dieses Kontinuums hat als Resultat emergente Musik – eine Musik, deren Form sich erst im Improvisationsspiel ergibt. Je höher der Emergenzgrad der Musik, desto mehr ist sie ein sich selbst veränderndes „System“, das einen großen Einfluss auf die drei anderen Dimensionen des Modells ausübt und umgekehrt durch sie geprägt wird. Das hier vorgeschlagene Modell von Improvisationsprozessen soll als Basis dienen, die in weiteren, empirisch fundierten Untersuchungen vertieft, korrigiert und ausgebaut werden soll.

Publications

  • (2008). „Musikalisches Improvisieren: Die phänomenologische Handlungstheorie auf dem Prüfstand“. In: Raab, Jürgen, Michaela Pfadenhauer, Peter Stegmaier, Jochen Dreher und Bernt Schnettler (Hrsg.): Phänomenologie und Soziologie. Positionen, Problemfelder, Analysen. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 389-399
    Figueroa-Dreher, Silvana K.
  • (2008). „Musikalisches Improvisieren: Ein Ausdruck des Augenblicks“. In: Kurt, Ronald und Klaus Näumann (Hrsg.): Menschliches Handeln als Improvisation. Bielefeld: transcript, S. 159-182
    Figueroa-Dreher, Silvana K.
  • (2008). „The Grounded Theory and the Analysis of Audio-Visual Texts“. In: International Journal of Social Research Methodology 11, S. 1-12
    Figueroa, Silvana
  • (2008). „Vom ‘Impuls’ zur Sozialität: Reflexionen über die ‘Natur’ des musikalischen Improvisierens”. In: Rehberg, Karl-Siegbert (Hrsg.): Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Frankfurt a.M./New York: Campus (CD-Rom)
    Figueroa-Dreher, Silvana K.
  • (2010). “Ungewissheit als schöpferisches Prinzip beim Free Jazz-Improvisieren“. In: Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Unsichere Zeiten. Verhandlungen des 34. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Jena 2008. Wiesbaden: VS Verlag (CD-Rom)
    Figueroa-Dreher, Silvana K.
  • (2010). „Abstimmungsprozesse im Free Jazz: Ein Modell des Ordnens“. In: Böhle, Fritz und Margit Weihrich (Hrsg.): Die Körperlichkeit sozialen Handelns. Soziale Ordnung jenseits von Normen und Institutionen. Bielefeld: transcript, S. 185-206
    Figueroa-Dreher, Silvana K.
  • (2010). „Was kann die Soziologie vom Free Jazz lernen?“. In: Knauer, Wolfram (Hrsg.) Albert Mangelsdorff. Tension/Spannung. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung. Band 11. Hofheim: Wolke, S. 187-212
    Figueroa-Dreher, Silvana K.
 
 

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