Sprachliche Erscheinungsformen des Diskurses zum Nationalsozialismus 1955 bis 1980
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das 20. Jahrhundert ist gekennzeichnet von einer Reihe von Demokratisierungsschüben. Diese lassen sich als Leitidee einer sprachlichen Umbruchgeschichte des 20. Jahrhunderts formulieren. Ende der 1960er Jahre war ein solcher demokratiegeschichtlicher Umbruch, der sich in einer grundlegenden Mentalitätsveränderung der deutschen Nachkriegsgesellschaft ausdrückt und der diskurs- und sprachgeschichtlich nachweisbar ist. Das auf Mündigkeit, Kommunikation, aufgeklärte Vernunft und Unmittelbarkeit setzende Demokratiekonzept Ende der 1960er Jahre repräsentiert eine neue, aufklärerische, rationalisierte und fundamentalisierte Demokratieversion. Tiefgreifende Reformen der 60er und 70er Jahre können auch als Resultat dieser neuen Demokratie-Konzeption verstanden werden. Der kritische Diskurs Ende der 1960er Jahre ist insofern ein Beitrag zur Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts und wenn in diesem Sinn "68 das Datum war, an dem der zivile Staat sich in der Bundesrepublik durchgesetzt hat - gegen die Vertreter der deutsch-autoritären Tradition" und hierin „die nicht hoch genug zu veranschlagende Bedeutung von '68 für die westdeutsche Gesellschaft" liegt, dann bestätigt sich diese Bewertung diskurs- und sprachgeschichtlich: Das Gesellschaftsideal des kritischen Diskurses Ende der 1960er Jahre manifestiert sich in der urdemokratischen Überzeugung von Mündigkeit und Selbstbestimmung. Eine Entsprechung dieser Überzeugung findet sich in der antiautoritären Selbstperspektive der studentischen Aktivisten, verdichtet in den Stereotypen links/Linke, Opposition/oppositionell. Insbesondere antiautoritär entspricht diesem Konzept ebenso wie die Konstituierung des Gegenkonzepts, das in den Leitwörtern Faschismus und autoritärer Staat repräsentiert ist, die als Ausdruck von Unmündigkeit, Abhängigkeit und hierarchischen Strukturen bewertet werden. Auf der Handlungsebene der Kritik als der Ausdrucksform von Mündigkeit und Autonomie entspricht dieser Leitidee der Anspruch einer auf kritischer Auseinandersetzung mit politischen und gesellschaftlichen Phänomenen beruhende Lebensform, die in der demokratischen Form der (öffentlichen) Diskussion und Kommunikation ihren Platz hat (mit den Schlüsselwörtern Kritik und Diskussion und der handlungsbezeichnenden Formel Öffentlichkeit herstellen). Schließlich können vor allem die Konzepte von Partizipationsdemokratie als Repräsentationen des Mündigkeitsideals gelten. Hier wurden Mündigkeit, Autonomie und Willensbildung ausdrücklich als Elemente des neuen Demokratiekonzepts thematisiert (mündig, Vernunft, Willensbildung, autonom). Fazit: Das Konzept Demokratie (mit dem Komplex lexikalischer Ausdifferenzierungen, die wir rekonstruiert haben) erhält Ende der 1960er Jahre hohe Evidenz und der autonome, mündige Bürger ist gesellschaftliche Leitfigur dieses Prinzips.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2007): Linguistik als Kulturwissenschaft. Am Beispiel einer Geschichte des sprachlichen Umbruchs im 20. Jahrhundert. In: Kämper, Heidrun/Ludwig M. Eichinger (Hgg.): Sprach-Perspektiven. Germanistische Linguistik und das Institut für Deutsche Sprache. Tübingen: Narr. S. 419-439
Heidrun Kämper
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(2008): Sprachgeschichte - Zeitgeschichte - Umbruchgeschichte. Sprache im 20. Jahrhundert und ihre Erforschung. In: Sprache - Kognition - Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung. (Jahrbuch 2007 des Instituts für Deutsche Sprache) Hg. von Heidrun Kämper, Ludwig M. Eichinger. Berlin, New York: W. de Gruyter. S. 198-224
Heidrun Kämper