"Zeitgeschichte sehen". Entwicklung und Erprobung eines Forschungsdesigns zur Untersuchung der Wahrnehmung von Geschichtsfilmen in Deutschland und in den USA
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Filme und ihre Bilder stellen einen wichtigen Deutungsrahmen für die Wahrnehmung historischer Ereignisse bereit. Wie allerdings Filme konkret angeeignet werden und welchen Einfluss sie auf das Geschichtsbewusstsein der Zuschauer nehmen, war bisher weitgehend unerforscht. In dem Projekt „Zeitgeschichte sehen" wurde ein Forschungsdesign entwickelt und die Wahrnehmung von Geschichtsspielfilmen kulturvergleichend untersucht. Wichtige Grundlagen dieses an der Stanford University in den USA durchgeführten Projekts waren die internationale und interdisziplinäre Ausrichtung sowie der Anspruch, qualitative Ansätze der Medienforschung mit einer kulturwissenschaftlich orientierten Gedächtnisforschung und stärker textorientierten Ansätzen der Rezeptionsforschung zusammen zu bringen. Die Untersuchung der medialen Vermittlung von zeithistorischen Themen setzte am Beispiel von zwei national wie international überaus erfolgreichen Geschichtsfilmen zur deutschen bzw. amerikanischen Vergangenheit an: Die Aneignung der Tragik-Komödien Forrest Gump (1994) und Good Bye, Lenin! (2003) durch deutsche und amerikanische Zuschauer wurde eingehend analysiert und miteinander verglichen. Dabei zeigt sich, wie die Wahrnehmung von einzelnen Spielfilmsequenzen durch den emotionalen Realismus der Zuschauer gerahmt wird, ganz gleich, ob es sich bei den Zuschauern um Historiker oder Schüler handelt. Das Gesehene wird daraufhin geprüft, ob es in Anknüpfung an die eigenen Erfahrungen und die eigene Lebenspraxis Sinn macht. Bilder und Filme werden dabei zu verschiedenen Zeitpunkten aus ganz unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen. Eine Zuschauerin sieht und spricht als Frau, Angehörige einer Generation, vor dem Hintergrund ethnischer Herkunft, als Mutter etc. Diese Rollen bedingen die emotionale Schwerpunktsetzung und damit den Rahmen von Wahrnehmung und Erinnerung. Die Wahrnehmung eines Films über die Vergangenheit ist ein kreativer Akt, der sich auf die gelebte Gegenwart und die Zukunftsorientierungen des Zuschauers gründet. In Hinblick auf das Geschichtsbewusstsein funktioniert das Gespräch über Spielfilmsequenzen damit methodisch wie eine Blaupause. Auf mehreren Ebenen zeichnen sich die Konturen des Geschichtsbewusstseins ab, wenn die Befragten versuchen, Sinn aus einer Spielfilmsequenz zu machen. Neben biographischen Anknüpfungspunkten sind dabei vor allem erinnerungskulturelle Bilder und Schemata bedeutsam. So lässt sich etwa an den in den USA durchgeführten Interviews zeigen, wie die Aneignung der Filme Forrest Gump und Good Bye Lenin! in den Jahren 2008-2010 von der Kanidatur und Präsidentschaft Barack Obamas mitbestimmt wird. Mit dem Projekt „Zeitgeschichte sehen" wird das erste Mal eine genaue Deskription von historischen Sinnbildungsprozessen am Beispiel des Mediums Film vorgelegt, die einen grundlegenden Beitrag zur Theorie und Empirie des Geschichtsbewusstseins sowie Hinweise für die geschichtsdidaktische Pragmatik liefert.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Die DDR als Spielfilm und als Familiengeschichte. Wie ost- und westdeutsche Schüler die DDR sehen, in: Saskia Handro und Bernd Schönemann (Hg.): Orte historischen Lernens, Berlin 2008, S. 89-98
Sabine Moller
- Eine Fußnote des Geschichtsbewusstseins? Wie Schüler in Westdeutschland Sinn aus der DDR-Geschichte machen, in: Michele Barricelli und Julia Hornig (Hg.): Aufklärung, Bildung, „Histotainment"? - Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute, Frankfurt am Main 2008, S. 175-188
Sabine Moller
- Teaching a Troubled Past. Potential Challenges and Pitfalls of Incorporating Family Recollections into History Education, Zeitschrift für Pädagogische Historiographie (2009), H.2, S. 56-59
Sabine Moller
- Das kollektive Gedächtnis, in: Ariane Eichenberg/Christian Gudehus/Harald Welzer (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010
Sabine Moller