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Transformationen und integratives Potential der wissenschaftlichen Philosophie in den Schriften von Moritz Schlick und Hans Reichenbach

Antragsteller Dr. Olaf Engler
Fachliche Zuordnung Geschichte der Philosophie
Förderung Förderung von 2008 bis 2016
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 72537890
 
Erstellungsjahr 2016

Zusammenfassung der Projektergebnisse

In dem Projekt wurde die in den letzten Jahren erfolgte Aufarbeitung und Neubewertung der erkenntnistheoretischen und naturphilosophischen Schriften der beiden bedeutenden Vertreter der wissenschaftlichen Philosophie: des Begründers des Wiener Kreises Moritz Schlick (1882–1936) und des führenden Kopfs der Berliner Gruppe Hans Reichenbach (1891–1953) fortgeführt. Die wissenschaftliche Philosophie hatte zur Mitte des langen 19. Jahrhunderts ihre Ursprünge in neukantischen, positivistischen und realistischen Positionen. In ihren frühen veröffentlichen und nachgelassenen Schriften zur Erkenntnistheorie und Naturphilosophie haben Schlick und Reichenbach wichtige Ideen und Konzepte der vor allem deutschsprachigen wissenschaftlichen Philosophie aufgenommen, in gemeinsamen Debatten verändert und in den Wiener Kreises bzw. die Berliner Gruppe eingebracht. Dabei standen Schlick und Reichenbach vor allem unter dem Einfluss der tiefgreifenden Umbrüche und weitreichenden Revolutionen in den empirischen und mathematischen Wissenschaften, insbesondere der modernen Physik aber auch der experimentellen Psychologie. In diesem Zusammenhang konnte gezeigt werden, dass Schlick die erkenntnistheoretische Methode der raum-zeitlichen Koinzidenzen aus der zur Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden psychologisch bestimmten Debatte um die Herausbildung der Raumanschauung in seine frühen Schriften zur Erkenntnistheorie und Naturphilosophie übernahm. Dabei problematisierte er das Verhältnis zwischen psychischen Phänomenen und den durch Messungen zu bestimmenden Größen der exakten Naturwissenschaften. Später hat Schlick, wie wir zeigen konnten, bei einem Treffen mit dem Physiker Albert Einstein Mitte Dezember 1915 in Berlin diesen davon überzeugt, dass die objektive Koinzidenzmethode der entscheidende Baustein für die philosophische Deutung des mathematischen Formalismus der von Einstein kurz zuvor gefundenen relativistischen Feldgleichungen der Gravitation war. Ähnlich Schlick hat auch Reichenbach in den 20er Jahren zum philosophischen Verständnis der modernen Physik entscheidend beigetragen. Beide haben jedoch auf unterschiedlichen Wegen in ihren späteren Werken, Schlick unter dem Einfluss von Rudolf Carnap und Ludwig Wittgenstein, Reichenbach als Vertreter einer induktiven Wahrscheinlichkeitslogik, die ursprünglich engen Banden mit den Wissenschaften abgebrochen, womit auch eine Historisierung des wissenschaftlichen Wissens entfiel. Damit einher ging die für die weitere Entwicklung der Wissenschaftsreflexion ausschlaggebende Transformation der wissenschaftlichen Philosophie in den Logischen Positivismus/Empirismus des Wiener Kreises bzw. der Berliner Schule. Diese von uns als »Spaltung der Rationalität« bezeichnete Entwicklung zeigt sich vielleicht nirgends deutlicher als in der kurzen Begegnung zwischen Schlick und seinem Kritiker, dem Medizinhistoriker Ludwik Fleck 1933/34, welche die einsetzende Spaltung zwischen analytischen und historischen Perspektiven auf die Wissenschaften dokumentiert, aber auch das bis heute verschüttete Potential der wissenschaftlichen Philosophie offen legt, das für eine zukünftig zu entwickelnde historische Epistemologie zur Herausforderung werden sollte, um die immer noch bestehende Spaltung zu überwinden.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Über das erkenntnistheoretische Raumproblem bei Moritz Schlick, Wilhelm Wundt und Albert Einstein. In: Friedrich Stadler und Hans Jürgen Wendel (Hrsg.), Stationen: dem Philosophen und Physiker Moritz Schlick zum 125. Geburtstag. Wien/New York, Springer 2009, 107–145
    Engler, F.O.
  • Der Pädagoge Schlick. In: Friedrich Stadler und Hans Jürgen Wendel (Hrsg.), Stationen: dem Philosophen und Physiker Moritz Schlick zum 125. Geburtstag. Wien/New York, Springer 2009, 167–185
    Henning, B.
  • Carnap, Reichenbach und Schlick um 1925. Zur Überwindung der Kantischen Tradition in der wissenschaftlichen Philosophie. Berlin, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Preprint-Reihe, Nr. 396 (2010), 17–36
    Engler, F.O.
  • Integration und Einheitsbemühungen bei Otto Neurath. Die Neurath- Schlick-Korrespondenz 1934–1936. Berlin, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Preprint-Reihe, Nr. 396 (2010), 37–50
    Böger, K.
  • Koinzidenzen, Gestalten und Denkstile: Moritz Schlick und Ludwik Fleck über die Objektivität am Fundament der Erkenntnis und die Bedeutung der Wissenschaftsgeschichte. In: Fynn Ole Engler und Mathias Iven (Hrsg.): Moritz Schlick. Ursprünge und Entwicklungen seines Denkens. Berlin, Parerga Verlag 2010, 339–386
    Engler, F.O.
  • Richard Avenarius‘ Konzeption der wissenschaftlichen Philosophie und die Herausbildung der wissenschaftlichen Philosophie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Fynn Ole Engler und Mathias Iven (Hrsg.): Moritz Schlick. Ursprünge und Entwicklungen seines Denkens. Berlin, Parerga Verlag 2010, 149–170
    Henning, B.
  • Denk-Standpunkte. In: Rainer Egloff und Johannes Fehr (Hrsg.), Vérité, Widerstand, Development: At Work with / Arbeiten mit / Travailler avec Ludwik Fleck. Collegium Helveticum Heft 12, Zürich (2011), 21–37
    Engler, F.O.
  • Hume, Einstein und Schlick über die Objektivität der Wissenschaft. In: Fynn Ole Engler und Mathias Iven (Hrsg.), Moritz Schlick. Die Rostocker Jahre und ihr Einfluss auf die Wiener Zeit. Leipzig, Leipziger Universitätsverlag 2013, 123–156
    Engler, F.O. und Renn, J.
  • Moritz Schlick und die Philosophie der Mathematik in den Rostocker Jahren. In: Fynn Ole Engler und Mathias Iven (Hrsg.), Moritz Schlick. Die Rostocker Jahre und ihr Einfluss auf die Wiener Zeit. Leipzig, Leipziger Universitätsverlag 2013, 273–288
    Böger, K.
  • Moritz Schlicks Weg zur Zweisprachentheorie – Psychologie zwischen Philosophie und Naturwissenschaft. In: Elisabeth Nemeth und Friedrich Stadler (Hrsg.), Die europäische Wissenschaftsphilosophie und das Wiener Erbe. Veröffentlichungen des Instituts Wiener Kreis, Vol. 18, Wien/New York, Springer 2013, 153–185
    Henning, B.
  • Wissenschaftliche Philosophie, moderne Wissenschaft und historische Epistemologie. Albert Einstein, Ludwik Fleck und Moritz Schlick im Ringen um die wissenschaftliche Rationalität. Berlin, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Preprint-Reihe, Nr. 400 (2013), 107 S.
    Engler, F.O. und Renn, J.
  • Two Encounters. In: Shifting Paradigms: Thomas S. Kuhn and the History of Science. Max Planck Research Library for the History and Development of Knowledge, Proceedings 9, Edition Open Access 2015, 139–147
    Engler, F.O. und Renn, J.
  • »Allerdings ist die Lektüre äusserst schwierig.« Zum Verhältnis von Moritz Schlick und Ludwig Wittgenstein. In: Wittgenstein-Studien 6 (2015), 175–210
    Engler, F.O.
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1515/witt-2015-0108)
 
 

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