Evolutionäre Narratologie
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Forschungsprojekt »Evolutionäre Psychologie und Erzähltheorie« beschäftigt sich mit dem Erzählen als einer typischen Verhaltensweise der menschlichen Spezies und fragt nach den Ursprüngen dieses Verhaltens in der Evolution. Das Erzählen von Geschichten prägt als konversationeller Erlebnisbericht das Alltagsleben, bringt schon als kindgerechte Gutenachtgeschichte oder illustrierendes Exempel basale Kunstformen hervor und hat schließlich von Homer bis zur Romankunst seit dem 19. Jahrhundert eine umfangreiche Kultur des literarischen Erzählens ermöglicht. Nach den biologischen Grundlagen des Erzählens zu fragen, scheint angesichts der zentralen Rolle, die dieses Verhalten im menschlichen Leben spielt, nicht abwegig, wirft aber sofort einige Schwierigkeiten auf. Das Erzählen selbst einfacher, kunstloser Geschichten setzt eine Vielzahl hochdifferenzierter kognitiver Leistungen voraus, deren Zweck zur Zeit ihrer Entstehung in der Entwicklungsgeschichte des Menschen noch nicht das Geschichtenerzählen war. Forschungen nach dem Ursprung der Erzählfähigkeit haben also ein weites Spektrum kognitiver Fähigkeiten, wenn nicht den gesamten Prozess der Kulturentstehung überhaupt in den Blick zu nehmen. Sodann stellt sich die Frage, ob es einen bestimmten Selektionsdruck gab, der aus der Vielzahl der beteiligten kognitiven Mechanismen einen übergeordneten Mechanismus >Erzählen< hervorgebracht hat, oder ob unsere Erzählfähigkeit biologisch gesehen ein bloßes Nebenprodukt ist, d.h. das Verhalten im jeweiligen Fall immer wieder neu aus den beteiligten Fähigkeiten zusammengesetzt wird. Solange wir keinen solchen Selektionsdruck benennen können, und auch keine Evidenz für einen psychischen Mechanismus besitzen, der das Verhalten unter bestimmten Bedingungen zuverlässig (>instinkthaft<) hervorbringt, ist an der Nebenprodukthypothese festzuhalten. Die Rekonstruktion der beteiligten Mechanismen und ihrer Entstehungschronologie ermöglicht jedoch ein genaueres Verständnis der Verfasstheit von Erzählungen und ihrer unterschiedlichen Varianten. Auf diese Weise stellt die evolutionspsychologische Betrachtung Anschlüsse an die literaturwissenschaftliche Erzähltheorie her. Zum Beispiel lassen sich traditionelle Vorstellungen von verschiedenen Modi des Erzählens (showing vs. telling, fokalisierte vs. unfokalisierte Erzählung, >Erfahrungshaftigkeit<) aus dieser Perspektive bestätigen und kognitionswissenschafllich erklären. Auch die Intuition, dass ja auch im Film und auf dem Theater irgendwie >Geschichten erzählt< werden, findet ihre Bestätigung darin, dass es sich vermutlich um unmittelbar verwandte Prozesse handelt und die Fähigkeit zur geschichtsförmigen Repräsentation von Ereignissen der menschlichen Sprachfähigkeit evolutionär vorausging.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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"The Multifunctionality of Idle Afternoons. Art and Fiction in Boyd's Vision of Evolution" [Rez. zu: Brian Boyd: On the Origin of Stories. Evolution, Cognition, and Fiction. Cambridge/MA, London 2009]. In: JLTonline.de, 09.03.2010
Katja Mellmann