Philosophie als Literatur, Philosophie über Literatur, Philosophie in der Literatur. Zur Interaktion von Literatur und Philosophie in der russischen Kultur.
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Den Ausgangspunkt für das Projekt bildete die Frage nach dem Spezifikum der Beziehung zwischen den Diskursfeldern Literatur und Philosophie in der russischen Kultur. Die grundlegende Hypothese der Unterprojekte bestand in der Annahme, dass die russische Kultur (vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert) eine starke Tendenz aufweist, Selbstreflexion und -definition vorrangig im Medium der Literatur zu betreiben. Dies gilt vor allem im Vergleich mit Westeuropa, wo der literarische Diskurs sich zu einem autonomen Bereich entwickelte, während die Literatur in Russland zum Aktionsraum der verschiedensten Diskurse wird. Ausgehend von der These, dass die russische Kultur – anders als die westliche – bis weit ins 19. Jahrhundert über ein wenig ausdifferenziertes Diskurssystem verfügte, lässt sich behaupten, dass die Philosophie und die Literatur aufeinander verweisen, jeweils die Funktion des anderen übernehmen, dass sie einander usurpieren und aneinander partizipieren. Diese Fragestellung wurde in zunächst drei, dann vier eng miteinander vernetzten Unterprojekten aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet: Unterprojekt 1: Zwischen ästhetischer und argumentativer Rede. Der literarische Diskurs als Ort kultureller Selbstreflexion in Russland im 19. Jahrhundert (Prof. Dr. Irina Wutsdorff): Das Projekt konzentriert sich auf Texte von Philosophen, die mit literarischen Ausdrucksformen arbeiten (wie P. Čaadaev) und Schriftsteller, die in ihren literarischen Werken philosophische Fragen behandeln und/oder zusätzlich reflektierende Texte verfassen (wie F. Dostoevskij) oder sich im Spätwerk von der Literatur ab- und einem philosophisch-didaktischen Duktus zuwenden (wie N. Gogol’ oder L. Tolstoj) und analysiert, davon ausgehend, die diskursiven Überschneidungen zwischen Literatur und Philosophie. Unterprojekt 2: Literatur und Verführung, Philosophie und Verführung (Prof. Dr. Schamma Schahadat: Es geht um die (oft nicht sichtbar gemachte) Überkreuzung zwischen ratio und Sinnlichkeit, vernunftgesteuertem Kalkül (des Verführers) und affektiven Verfahren, rationale Taktik und (erotisch/ästhetische) Imagination. Die Verführung erweist sich so als Schlüsselbegriff für die Interaktion zwischen Literatur und Philosophie. Unterprojekt 3: Radikale Anthropologie der 1930-40er Jahre in philosophischen und narrativen Formen (Dr. Nadežda Grigor’eva: Das Ziel des Projekts war die Untersuchung des epochenspezifischen Menschenbildes in Philosophie, Literatur und Film der Zwischenkriegszeit. Sowohl in Westeuropa als auch in Russland zeichnet sich die Zeit zwischen den 1920er und 1940er Jahren durch eine intensive Entwicklung radikaler Entwürfe vom Menschen aus. Als Material dienten die Philosophie und philosophisch orientierte diskursive und mediale Praktiken des kontinentalen Europa (russische Texte im Vergleich mit deutschen und französischen). Unterprojekt 4: Formen der Negation bei L.N. Tolstoj (Dr. Erik Martin): Im Zentrum der Arbeit stand das (oft diskutierte) Verhältnis zwischen den literarischen und philosophischen Schriften Tolstojs; dazu wurde die Negation als ein Gestaltungsmerkmal sowohl der Texte (narrative Ebene) als auch der Textproduktion (metanarrative Ebene) herausgegriffen und als Konstituente der literarischen und theoretischen Schriften Tolstojs analysiert. Der Mehrwert dieses Projekts lag in der intensiven Zusammenarbeit zwischen deutschen und russischen (z.T. auch britischen und amerikanischen) Slavist/innen und Philosoph/innen; dadurch, dass der Dialog über einen Zeitraum von fast fünf Jahren geführt wurde, sind eine Reihe von Einzeluntersuchungen entstanden, die einerseits den Dialog zwischen den Disziplinen, andererseits auch die internationalen Kontakte gestärkt haben.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Čelovečnoe, besčelovečnoe: Radikal’naja antropologija v filosofii, literature i kino konca 1920-ch – 1950-ch gg. . / Menschliches, Unmenschliches: Radikale Anthropologie in der Philosophie, Literatur und im Kino der 1920-50er Jahre. Monographie. Sankt-Peterburg 2012. 624 S.
Nadežda Grigor‘eva
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„Erzählen wider das Erzählen. Tolstojs Darstellung von Levins Sinnsuche in Anna Karenina“, Zeitschrift für Slavische Philologie 66(2009)1, S. 93-127
Irina Wutsdorff
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„Philosophie und Verführung. Der intime Diskurs der russischen Philosophen“, in: Deutsche Beiträge zum 14. Internationalen Slavistenkongress Ohrid 2008, hrsg. v. S. Kempgen, K. Gutschmidt, U. Jekutsch, L. Udolph, München 2009
Schamma Schahadat
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Das Konzept der Synthese im russischen Denken. Künste – Medien – Diskurse. Literatur und Philosophie. Wien, München 2010. (Wiener Slawistischer Almanach Sonderband 76; „Literatur und Philosophie I“)
Nadežda Grigor’eva, Schamma Schahadat, Igor’ P. Smirnov, Irina Wutsdorff
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Erkenntnis und Darstellung: Formen der Philosophie und der Literatur. Paderborn 2011
Catrin Misselhorn, Schamma Schahadat, Irina Wutsdorff
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Die Welt der Slaven. Jahrgang LVII (2012) Heft 1. Schwerpunkt: Literatur und Philosophie in wechselseitiger Kritik
Nadežda Grigor’eva, Schamma Schahadat, Irina Wutsdorff
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Formen der Negation bei Lev Tolstoj, München 2012
Erik Martin
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Konzepte der Kreativität im russischen Denken. Wien, München 2012. (Wiener Slawistischer Almanach Sonderband 80; „Literatur und Philosophie II“
Nadežda Grigor’eva, Schamma Schahadat, Igor’ P. Smirnov u. Irina Wutsdorff
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Krizisy kul’tury i avtory na granice ėpoch v literature i filosofii [Kulturkrisen und Autoren an der Epochengrenze in Literatur und Philosophie]. Sankt-Peterburg 2013
Sergej Gončarov, Nadežda Grigor’eva, Schamma Schahadat