Die Eisenkonstruktionen in den Gebäuden der Staatlichen Eremitage St. Petersburg - Erfassung, Analyse und Bewertung im Kontext des frühen europäischen Stahlbaus
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die 1838-1850 errichteten eisernen Tragwerke in den Gebäuden der Staatlichen Eremitage St. Petersburg stellen ein weltweit einzigartiges Ensemble aus der Frühzeit des Eisenbaus dar. Im Rahmen eines dreijährigen Verbundprojektes von BTU Cottbus und KIT Karlsruhe wurden sie erstmals systematisch erfasst und untersucht. Die Bearbeitung beinhaltete insbesondere die Erfassung und Dokumentation aller wesentlichen eisernen Dach- und Deckentragwerke in abgestuften Untersuchungstiefen und deren Zuordnung zu Bauphasen und Herstellern, die Aufbereitung der Planungs- und Baugeschichte in Auswertung der Befunde und Archivalien, die Rekonstruktion und Analyse der Planungs- und Konstruktionsprozesse sowie Montageabläufe, Untersuchungen zum Tragverhalten und vergleichende Bewertungen der konstruktiven Qualitäten, die Verortung im Kontext der zeitgenössischen russischen Eisenerzeugung und Eisenbauten sowie Beratungsleistungen im Rahmen der aktuellen „Generalsanierung“ der Dachtragwerke. In methodischer Hinsicht wurden traditionelle Verfahren der architekturorientierten historischen Bauforschung durch ingenieurspezifische Komponenten wie etwa ingenieurtechnisch orientierte Bestandsaufnahmen, statische Analysen und Parameterstudien erweitert. Die Bestandsaufnahme offenbarte neben der bereits erwarteten Vielfalt in den Tragsystemen einen überraschenden Detailreichtum und vor allem auch eine erstaunliche Detailvarianz – sowohl für die Tragwerke verschiedener Bauphasen und Hersteller als auch für Bereiche wie den Winterpalast, für die lediglich ein Hersteller, das Alexandrovski-Werk unter der Leitung Matthew Clarks, verantwortlich war. Im Ergebnis liegt erstmals eine systematische und detailgenaue Dokumentation fast aller wesentlichen Strukturtypen, der umfänglichen Detailvarianten sowie signifikanter Schäden und Mängel vor; sie wird ergänzt durch detaillierte räumliche Visualisierungen sowohl besonders komplexer Bindersysteme als auch von rekonstruierten Bau- und Montagefolgen. Angesichts der zwischenzeitlich durchgeführten „Generalsanierung“ in nahezu allen Dachtragwerken und der damit verbundenen, teilweise irreversiblen Überformungen erwuchsen der Dokumentation jenseits des wissenschaftlichen Interesses zwei zusätzliche, zuvor nicht absehbare Bedeutungsebenen: Zum einen ermöglichte sie fundierte gutachterliche Stellungnahmen gegen die geplanten radikalen Eingriffe, zum anderen konnten damit wichtige Teile des bis dahin erhaltenen und gewachsenen Bestandes unmittelbar vor den Eingriffen noch detailliert dokumentiert werden. Die äußerst umfangreichen Archivalien ließen sich im Rahmen des Projektes lediglich entlang bestimmter Interessenlinien auswerten – so etwa hinsichtlich der Verantwortlichkeiten in der Baukommission, der technischen Diskussionen, der Protokolle von Belastungsversuchen und Probebelastungen oder der Bauunfälle, aber auch in Hinblick auf die Bedeutung des (für alle mit der Eisentechnologie verbundenen Fragen) zuständigen Bergministeriums incl. des zugehörigen Corps der Bergingenieure sowie hinsichtlich der Kontakte und Bezüge der Verantwortlichen nach Westeuropa. Aus der Sichtung der graphischen Materialien resultierte die Reproduktion von mehr als 150 inhaltlich relevanten Zeichnungen. Die inhaltliche Analyse der Befunde und Archivalien eröffnete ein vertieftes Verständnis der Planungs-, Konstruktions- und Bemessungsprozesse im frühen Stahlbau – so etwa zur Struktur- und Detailentwicklung und der damit verbundenen Transformation traditioneller Strukturvorstellungen aus dem Holzbau in den Stahlbau, zu den vornehmlich versuchsgestützten Sicherheitskonzepten oder auch zur besonderen Bedeutung der Baustelle als eines Innovationspools. Die exemplarische Rekonstruktion ausgewählter Bau- und Montageabläufe bestätigte im Übrigen die These, dass die Konzeption der Tragwerke in Teilen gerade auch durch die favorisierte Montagefolge bedingt wurde. Die Einbeziehung baustatischer Methoden ermöglichte es, durch statische Analysen und Parameterstudien belastbare Aussagen zur Leistungsfähigkeit der Eisentragwerke und damit zur begründeten Quantifizierung des oft leichtfertig benutzten Terminus’ der „Kühnheit“ der Konstruktionen zu gewinnen; zudem trugen sie dazu bei, das strukturelle Denken der historischen Konstrukteure zu entschlüsseln. Die Analyse der Herkünfte und Lieferwege des verwendeten Eisens führte zu einer Kontextualisierung der Eremitage-Bauten im Umfeld der zeitgenössischen russischen Eisenerzeugung im Ural, deren Anfänge bis ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Ihre rasche Entwicklung und ihre europaweite Bedeutung im 18. Jahrhundert bieten ein wesentliches Erklärungsmuster für die Stärke und Vielfalt des russischen Eisenbaus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in anderen St. Petersburger Großbauten wie dem Aleksandrinski-Theater oder der Isaak-Kathedrale ihren Ausdruck fanden. Im Ergebnis steht das weitgefächerte Ensemble eiserner Tragwerke in den Gebäuden des St. Petersburger Palastkomplexes beispielhaft für wesentliche Etappen der Etablierung des Bauens mit Eisen im Russland der 1830er und 1840er Jahre - von der frühen, „suchenden“ Phase bis hin zur vollendeten Etablierung der Bauweise. Die zweibändige Abschlusspublikation zum Projekt wird im Rahmen der neu begründeten Reihe „Edition Bautechnikgeschichte / Construction History Series“ im Verlag Ernst & Sohn erscheinen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Современные музеи в мировом культурном наследии – конструктивное особенности и конструктивные решения. (Modern Museums in World Heritage Monuments – Structural challenges, structural solutions). Vortrag zur Internationalen Konferenz „Museums of the 21st century – Restoration, reconstruction, renovation“, Staatliche Eremitage Sankt Petersburg. 20.-22.10. 2008. St. Petersburg, The State Hermitage Publishers, 2010. S.28–36
Lorenz, W.
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Die Eisenkonstruktionen in den Gebäuden der Staatlichen Eremitage St. Petersburg – Historische Bauforschung mit ingenieurwissenschaftlichem Schwerpunkt (Kurzfassung). In: Koldewey-Gesellschaft (Hrsg.). Bericht über die 47. Tagung für Ausgrabungswissenschaft und Bauforschung, Trier, 16.-20. Mai 2012, Stuttgart 2014, S. 251–254
Lorenz, W., Fedorov, S.
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Rebuilding St. Petersburg’s Winter Palace in the Context of Early European Structures 1838–1850s: Contemporary Sources and Documents. In: Carvais, R. et al. (Eds.) Nuts & Bolts of Construction History. Proceedings of the 4th International Congress on Construction History, Paris, July 3-7 2012, Paris 2012, vol. 3, pp 203–213
Fedorov, S.
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Early Prefabricated Iron-Ribbed Domes: St. Isaac’s Cathedral in St. Petersburg, Russia. 1838-1841. In: Bowen, B. et al. (Eds.): Proceedings of the 5th International Congress on Construction History, Chicago, June 3-7, 2015, Chicago: Construction History Society of America 2015, vol.2, pp. 61-71
Fedorov, S.
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The Demidov Ironworks in Nevyansk (Ural Mountains) – Iron Structures in Building from the First Half of the 18th Century. In: Bowen, B. et al. (Eds.): Proceedings of the 5th International Congress on Construction History, Chicago, June 3-7, 2015, Chicago: Construction History Society of America 2015, vol.2, pp. 505-517
Lorenz, W.; Heres, B.