"Majestas Mariae" als musikgeschichtliches Phänomen. Studien zu marianischen Choralordinarien des 16. Jahrhunderts
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Trifft es zu, dass die musikhistorische Bedeutung einer Gattung nicht unwesentlich von Kriterien wie ihrer Anzahl und ihren prominenten Beiträgern abhängt, so dürfen die im Verlauf des Projektes eruierten 70 Missae de Beata Virgine der 1490er bis 1630er Jahre umstandslos als signifikant bezeichnet werden. Fast alle bekannten Komponisten haben mindestens ein Werk dieser Gruppe vorgelegt, und dass ihre Statistik mühelos jene knapp 50 L’homme armé-Zyklen der Messengeschichte überragt, soll kaum eine Neufassung historiographisch ohnehin zweifelhafter Gattungs-Ranglisten anregen, als vielmehr deutlich machen, dass der Blick auf nur eine Linie der Messvertonung noch lange keine Rückschlüsse über deren historische Relevanz oder gar Dominanz erlaubt. Denn nicht nur numerisch ist das Bild von der polyphonen Messvertonung im 16. Jahrhundert zu korrigieren, wenn die Missae de Beata Virgine geschlossen in den Blick rücken: Mit ihrer Orientierung am satzweise wechselnden Kirchenchoral und den liturgischen Marienfesten werden hier Formen und Funktionen akzentuiert, die man aus der Sicht des originalitätsästhetisch aus Form und Funktion ja gerade herausdrängenden „musikalischen Kunstwerks“ als konservativ bis retrospektiv, mindestens aber als künstlerisch unambitioniert begreifen müsste. Angesichts der bloßen Anzahl der Missae de Beata Virgine ausgewiesener Komponisten mutet dies freilich paradox an. Mit dem Fokus auf dieses große, bedeutsame Repertoire, das nachweislich auf seine frömmigkeitsgeschichtlichen Parameter – hier die Marienverehrung – formal reagiert, wird eine grundlegende kritische Diskussion gängiger Geschichtsbilder der polyphonen Messe ebenso möglich wie der konzeptionelle Entwurf eines angemessenen Interpretationshorizonts, der dem Gegenstand – auch und vor allem in seiner historischen Perspektive – gerecht wird. In dem Maße, in dem die Marienverehrung kirchlich legitimiert als künstlerisches Medium Profil bekam, war festzustellen, dass auch in der musikalischen Struktur, und nicht nur im Titel der Missae de Beata Virgine marianische Profilbildungen qua Symbol ihren Platz haben. Hier – im Spannungsfeld von künstlerischem Anspruch und funktionalen Determinismen – wären jene Messenforschungen perspektivisch anzusiedeln, die weniger am werkimmanenten musikalischen Prozess als am realen Ereignisort der Messe interessiert sind, der sich oft strukturhaft in den Kompositionen niedergeschlagen, mindestens aber zu ihrer spezifischen Form und Anlage Anlass gegeben hat. Insofern kann die als Projektergebnis vorgelegte Studie über ihre eigene Werkgruppe hinaus impulsgebend für die weitere Messenforschung sein.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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„Majestas Mariae“. Studien zu marianischen Choralordinarien des 16. Jahrhunderts (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft Bd. 70), Stuttgart (Steiner) 2012
Christiane Wiesenfeldt
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Missa „quasi una fantasia“? Zur Inszenierung kontrapunktischer Modelle in Rodios „Missa de Beata Virgine“, in: Die Tonkunst Jg. 3 (2009), Heft 1, S. 38–50
Christiane Wiesenfeldt
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„Ad Mariae gloriam“. Marienlob in den Messvertonungen des 16. Jahrhunderts, in: Sedes Sapientiae. Jahrbuch des Mariologischen Arbeitskreises Kevelaer 13 (2009), Nr. 1, S. 107–124
Christiane Wiesenfeldt
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Cantus versus planus. Überlegungen zu Josquins „Missa Hercules Dux Ferrariae“, in: Die Musikforschung 63 (2010), Heft 4, S. 379–389
Christiane Wiesenfeldt
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Funktion und Distanz. Heinrich Isaacs „Missae de Beata Virgine“ in ihrem rezeptionshistorischen Kontext, in: Heinrich Isaac. musik konzepte Sonderband, hg. von Ulrich Tadday, München (edition text + kritik) 2010, S. 135–149
Christiane Wiesenfeldt
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„Mediatrix nostra“ – „Unsere Vermittlerin“: Marianische Topoi in Pierre de la Rues Messen für Margarete von Österreich, in: Die Habsburger und die Niederlande. Musik und Politik um 1500 (= troja, Jahrbuch für Renaissancemusik 2008/2009), hg. von Jürgen Heidrich, Kassel (Bärenreiter) 2010, S. 143–160
Christiane Wiesenfeldt